Illustration: Shutterstock, agsandrew

Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds.

Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.

Rainer Maria Rilke

Das größte Mysterium unseres Lebens ist der Tod. Nicht immer in der Geschichte der Menschheit wurde er so verdrängt und bekämpft wie in unserer heutigen westlichen Kultur. Auch deshalb sind wir unsicher und hilfslos geworden im Umgang mit dem Sterben, mit dem Tod und mit der Trauer. Selbst Menschen, die in einer Religion, in der Spiritualität, in etwas Größerem eine Stütze haben, verlieren beim Tod immer wieder den Halt, den Boden unter den Füßen.


Die Hingabe an das Sterben und an den Tod ist alles andere als lebensverneinend. Tatsächlich ist erst sie die vollständige Hingabe an das Leben. »Solange du das nicht hast, dieses Stirb und Werde, bist du nur ein trüber Gast auf dieser Erde«, wußte nicht erst Goethe. Der Tod ist ein Abschiednehmen, ist ein Übergang, der den Schleier in eine andere Welt durchsichtig macht. Und der Seele wieder einen Hauch der Ewigkeit in Erinnerung ruft. Auch deshalb stellt er uns vor eine existenzielle Herausforderung.


Der Tod lässt uns das Wesentliche im Leben erkennen. Im Angesicht des Todes wollen wir endlich Antworten auf Fragen, denen wir vorher oft ein Leben lang aus-gewichen sind. Die heutigen Forschungen, begonnen Ende der 1960er-Jahre von der Schweizer Ärztin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross (†), haben unsere Erkenntnisse zum Sterben und Tod, und damit zum Leben, zusätzlich erweitert. Doch trotz aller heutiger und überlieferter Hinweise etwa aus dem sog. Ägyptischen und aus dem sog. Tibetischen Totenbuch, birgt der Tod ein letztes Geheimnis, das von unserem Verstand nicht erfasst werden kann. In der griechischen Mythologie wird diese Grenze durch eine mehrfache Sicherung des Zugangs zur Unterwelt ausgedrückt.

Durch das wissenschaftliche Interesse für die Erfahrung des Sterbens, besonders durch die Arbeiten von Russell Noyes und Raymond A. Moody, wissen wir vom universalen Charakter zahlreicher Nahtoderlebnisse. In vielen Fällen waren die Erfahrungen der Betroffenen so befriedigend, dass sie den starken Wunsch hatten, endgültig zu sterben und für immer in dem erlebten transzendenten Bereich zu bleiben; oft waren sie ärgerlich oder geradezu böse, weil man sie ins Leben zurückgeholt und der alltäglichen Wirklichkeit wiedergegeben hatte. Diese Menschen waren überzeugt, dass ihr Leben an Weite und Tiefe gewonnen hatte. Sie entwickelten ein ernsthaftes Interesse an letzten philosophischen und spirituellen Fragen und ihr Streben begann sich auf ganz andere Lebenswerte zu richten als vorher. Das Dasein erschien ihnen plötzlich viel wertvoller, und das volle Erleben des gegenwärtigen Augenblicks, das Hier und Jetzt, rückte viel stärker in den Vordergrund. Ihre Auffassung von der Bedeutung ihres Körpers im Verhältnis zum Geistigen veränderte sich stark.


Das Gefühl einer geistigen Wiedergeburt war begleitet von einer neuen Art, die Welt wahrzunehmen und in ihr zu existieren. Die wichtigste praktische Folge dieser neuen Lebenseinstellung waren eine gesteigerte Vitalität und eine freudige Bejahung der menschlichen Existenz. Einer der Betroffenen schilderte dies so: »Ich war von neuer Hoffnung und Lebenszuversicht erfüllt. Es ist etwas, das über das Begriffsvermögen der meisten Menschen geht. Ich freue mich an dem Wunder des Lebens, alles bekommt eine tiefere Bedeutung, nachdem man es beinahe verloren hätte. Ich erlebte ein Gefühl der Einheit mit allen Dingen und des Einsseins mit allen Menschen. Dass ich am Leben blieb, hat meinen Glauben an den Sinn und Zweck meines Lebens neu bekräftigt. Alles war jetzt klar und hell.«

Abbildung: Ahina Temesváry
Abbildung: Ahina Temesváry

Vorübergehende oder bleibende Veränderungen dieser Art sind sehr häufig bei Menschen, die eine sehr nahe Begegnung mit dem Tod erlebt hatten, sei es bei einem Unfall, einem Selbstmordversuch, einer schweren Krankheit oder einer Operation oder auch in symbolischer Form während einer spontanen mystischen Erfahrung, einem akuten psychotischen Schub oder bei einem Durchgangsritus.


Die Universität Bern hat eine Webseite (www.nahtod.ch) mit umfassenden Informationen zum Thema Nahtoderfahrungen eingerichtet.


Eine typische Beschreibung eines Nahtoderlebnisses stammt von einer gesunden Frau von damals 34 Jahren. Aufgrund einer Penicillinallergie entwickelte sich bei ihr ein Kehlkopf- und Glottisödem, begleitet von hoch-gradiger Atemnot mit schließlicher Bewusstlosigkeit. Dieses Erlebnis ist dem Buch Die Begegnung mit dem Tod von Stanislav Grof entnommen: »Ich hatte nie zuvor an irgendwelchen allergischen Erscheinungen gelitten, auch aus der Familiengeschichte waren keine derartigen Fälle bekannt. Als Krankenschwester wußte ich jedoch, dass es eine Penicillinallergie gibt und als ich die Tablette eingenommen habe, ging mir der Gedanke durch den Kopf, ich könnte vielleicht allergisch gegen Penicillin sein. Als mir das Atmen schwerzufallen begann, erkannte ich, was vorging und empfand panische Angst, die jedoch bald vorüberging. Jetzt werde ich nie wieder Angst vor dem Sterben haben. Ich empfand intensives Mitleid mit meinem Mann. Dann fühlte ich mich schuldbewusst, weil er meinetwegen dieses qualvolle Erlebnis durchmachen musste. Ich schämte mich. Jetzt kommt es mir so vor, als sei der Vorfall teilweise ein Racheakt gegen meinen Mann gewesen, obwohl die Sache doch in Wirklichkeit außerhalb meiner Kontrolle war. Ich erinnere mich an eine letzte heftige Reaktion, wo ich noch verzweifelt dagegen ankämpfte, aber ich fürchtete mich nicht mehr und dann gab ich auf, denn ich wusste, dass ich jetzt sterben wollte. Daraufhin sah ich eine Menge Szenen aus meinem Leben, die in schnellem Ablauf nacheinander vorüberzogen. Rückblickend scheint es mir, dass diese Szenen etwa bis in mein fünftes Lebensjahr zurückreichten. Ich erinnere mich an den Eindruck lebhafter Farben. Ich sah eine Puppe, die ich als Kind geliebt hatte und es fiel mir auf, wie leuchtend blau die Glasaugen der Puppe waren. Dann war da ein Bild von mir selbst auf einem knallroten Fahrrad auf einem ebenso knallgrünen Rasen. Ich war überzeugt, dass nicht mein ganzes Leben sich mir bildlich darstellte sondern nur einige Szenen aus meiner Kindheit und bei dem Ganzen hatte ich ein überschwengliches Glücksgefühl empfunden. Als nächstes erinnere ich mich an einen Zustand der Seligkeit und der Ekstase.

Ich war zutiefst in die Betrachtung eines Bildes des Taj Mahal versunken. Ich merkte, dass Menschen da waren, die mich aufzuwecken versuchten und fühlte mich zornig und irritiert. Ich wollte mit meinem schönen Traum vom Taj Mahal allein gelassen werden. Dann nahm ich die Sauerstoffmaske wahr und merkte, dass ein Tropfeinlauf lief. Widerstrebend erlangte ich das Bewusstsein wieder und sah, dass ich mich in der Notaufnahmestation eines Krankenhauses befand.«


Ein anderes Erlebnis stammt von Victor Solow, das durch dessen Auftreten in der Walter-Cronkite-Show in den USA eine breite Publizität erhielt. Er schilderte seine Erfahrung in einem Artikel in Reader's Digest: »Für mich war der Augenblick des Übergangs vom Leben zum Tod –wie sollte man es sonst nennen?– leicht. Es blieb keine Zeit für Angst, Schmerz oder Denken. Es gab keine Chance, mein ganzes Leben vor mir zu sehen, wie andere es schon erzählt hatten. Der letzte Eindruck, an den ich mich erinnern kann, dauerte nur einen kurzen Augenblick. Ich bewegte mich mit hoher Geschwindigkeit auf ein hell leuchtendes Netz zu. Die Stränge und Knoten, wo die leuchtenden Linien sich kreuzten, vibrierten unter einer ungeheuren kalten Energie. Das Gitter erschien als Barriere, die ein Weiterkommen verhindern würde. Ich wollte nicht durch das Gitter hindurch. Einen kurzen Augenblick lang schien sich meine Geschwindigkeit zu verringern. Dann war ich in dem Gitter. In dem Moment, als ich mit ihm in Berührung kam, steigerte sich das vibrierende Leuchten zu einer blendenden Intensität, die mich gleichzeitig verzehrte, aufsaugte und verwandelte. Ich spürte keinen Schmerz. Die Empfindung war weder angenehm noch unangenehm, nahm mich aber völlig in Anspruch. Das Wesen aller Dinge hatte sich verändert. Worte können die Erfahrung von diesem Augenblick an nur vage andeuten. Das Gitter war wie ein Transformator, ein Energieumwandler, der mich durch die Gestalt hindurch und in die Gestaltlosigkeit, jenseits von Raum und Zeit transportierte. Jetzt war ich nicht mehr an einem Ort, nicht einmal in einer Dimension, vielmehr in einem Seinszustand. Dieses neue 'Ich' war nicht das 'Ich', das ich kannte, vielmehr eine destillierte Essenz aus ihm, aber etwas unbestimmt Vertrautes, etwas, von dem ich immer gewusst hatte, dass es da war, begraben unter einem Überbau persönlicher Ängste, Hoffnungen, Wünsche und Bedürfnisse. Dieses 'Ich' hatte keine Verbindung mit dem persönlichen Ego. Es war endgültig, unveränderlich, unteilbar, unzerstörbarer, reiner Geist. Wenngleich völlig einzigartig und individuell wie ein Fingerabdruck, war dieses 'Ich' zugleich Teil eines grenzenlosen, harmonischen und geordneten Ganzen. Ich war schon einmal dort gewesen.«

Der Tod muss etwas Außerordentliches sein,
so wie es das Leben ist.
Das Leben ist ein Ganzes.
Leid, Schmerz, Qual, Freude, absurde Ideen,
Besitz, Neid, Liebe und das schmerzliche
Elend der Einsamkeit – all das
ist Leben.
Und um den Tod zu verstehen, müssen wir
die Gesamtheit des Lebens verstehen,
nicht nur ein Fragment davon nehmen und mit diesem Fragment leben,
wie es die meisten von uns tun.
Wenn wir das Leben
wirklich verstehen,
verstehen wir auch den Tod,
denn beide
sind nicht voneinander getrennt.

Jiddu Krishnamurti

Der Übergang von einer Seite zur anderen führt häufig über eine Brücke. Vom Leben in den Tod, aus der Trauer in das Leben. Was, wenn wir unsere Brücke erst noch finden müssen oder selbst noch bauen müssen? Schwer ist es für uns, wenn wir nicht wissen, was auf der anderen Seite auf uns wartet. Oder wir das, was auf uns wartet, nicht wollen und nur auf den Abgrund fixiert sind, den es zu überwinden gilt. Vielleicht wollen wir auch nur jemand nachschauen, der schon für immer von uns weggegangen ist und diesen Blick nicht lösen können oder wollen. Welche Wirkung hat es in unserem Leben, wenn alles wie es ist, mit uns und auch von uns gehen darf? Eine Brücke verbindet unsere Seite mit der jenseitigen Seite. Oft zeigt sich diese Jenseitige in einem Traum oder durch eine plötzliche Einsicht. Um durch die Herausforderung durchzukommen, müssen wir uns auf sie einlassen. Wir können erst dann

durch etwas durchgehen, wenn wir überhaupt hineingegangen sind. Wenn wir uns auf etwas einlassen, durch das wir hindurch müssen, damit wir auf der anderen Seite herauskommen. Um durchzukommen braucht es oft die letzte Kraft die trotz allem durchhält, bis der Ausgang oder ein uns vom Leben vorgegebenes notwendiges Ziel erreicht ist. Auch durch die Trauer müssen wir hindurch. Und auch hier mit gesammelter Kraft. Wir müssen in sie hinein und auf der anderen Seite mit der gleichen Kraft heraus, bis wir durch sind, trotz allem. Wo finden wir diese Kraft? Wir finden sie in der Totenstille. Hier schlägt kein Pendel mehr aus, hier tobt keine Welle mehr. Hier steht alles still. Was lässt sich für uns in dieser Stille erkennen? Alles ist, ohne Unterschied, zugleich. Jenseits und mitten in der Totenstille blüht jegliche Erkenntnis, die uns immer wieder ins Staunen und in Frieden bringt.

Alles was wir tun ist umsonst.
Alles was wir bekommen ist umsonst.
Der Regen fällt umsonst.
Die Sonne scheint umsonst.
Was ist schon dabei, dass wir nichts
in den Tod mitnehmen können?
Die Rechnung ist beglichen,
fertig, aus!
Alle versuchen, dem Menschenleben noch
etwas hinzuzufügen.
Darin liegt der Irrtum.

Kodo Sawaki